Stellen Sie sich vor, Sie steigen in Ihr Auto, stecken Ihren Schlüssel in das Zündschloss, drehen ihn um, aber nichts passiert! Was ist ihr erster Gedanke? Zunächst denken Sie wahrscheinlich, dass Ihr Auto kaputt sein könnte. Ein Forscherteam des Leibniz-Institutes für Neurobiologie Magdeburg hat gemeinsam mit Kollegen der Universität Leipzig jetzt untersucht, welche Prozesse in solchen Momenten noch ablaufen als nur der Gedanke an einen Besuch in der Werkstatt. Die Gruppe simulierte vergleichbare Situationen und zeichnete dabei die Aktivität des Gehirns auf, um einen fundamentalen Mechanismus von Erwartung und Fehlern aufzuzeigen.
Das Gehirn kann durch die Sinnesorgane herausfinden, was in der äußeren Welt vor sich geht. Es empfängt aber nicht nur Reize von außen und reagiert darauf, vielmehr laufen intern ständig unbewusste Prozesse ab, um auf der Basis seines Wissens über die Welt vorherzusehen, was der Mensch gerade sieht, hört, fühlt, schmeckt und riecht. Dieser Vorhersageprozess im Gehirn erlaubt uns, in einer sich ständig verändernden Umgebung Reize zu interpretieren und daraufhin zu handeln. Die Vorhersage der äußeren Welt ist jedoch meist nicht zu 100% richtig, daher muss es einen Weg geben, damit sich das Gehirn selbst korrigieren kann, wenn eine Vorhersage fehlerhaft ist.
Außergewöhnliche Gehirnaktivität im auditiven Bereich
In bisherigen Experimenten sollten Probanden mehrfach einen Knopf im Sekundentakt drücken und konnten bei jedem Knopfdruck zum Beispiel den Ton einer Trompete hören. Bei einem Tastendruck hörten die Probanden plötzlich kein Geräusch und ihre Erwartung wurde nicht erfüllt. Dieses überraschende Ausbleiben des Trompetentons erregte die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden. Bereits kurz nach dem Knopfdruck und vor dem Überraschungsmoment konnte mittels EEG eine starke Gehirnaktivität im auditiven Bereich gemessen werden.
„Wenn der Knopf gedrückt wird, vergleichen auditive Bereiche die Vorhersage des Trompetengeräuschs mit dem, was eigentlich zu hören ist. Folgt hingegen gar kein Ton, wird ein Signal aus diesen Hirnbereichen gesendet, dass die Vorhersage falsch war“, so Tjerk Dercksen, Erstautor der Studie. „Dies wird als Fehlersignal bezeichnet und ist das Ergebnis eines fundamentalen Mechanismus des Gehirns, der uns die Umgebung wahrnehmen und danach handeln lässt.“
In der Gehirnregion, wo der Fehler bemerkt wurde – im auditiven Bereich – wird ein Signal an übergeordnete Bereiche gesendet, das mitteilt, dass die Vorhersage falsch gewesen ist. So kann das Gehirn von seinem Fehler lernen und zukünftig bessere Vorhersagen treffen sowie Sinneseindrücke besser interpretieren.
Autoren nutzen neuen Forschungsansatz
Ausgehend von früheren Ergebnissen hat das Forscherteam um Gruppenleiterin Prof. Dr. Nicole Wetzel untersucht, ob ein derartiges Fehlersignal auch zu erwarten sei, wenn sich das Geräusch nach jedem Knopfdruck änderte. Obwohl das Gehirn nicht weiß, welches Geräusch genau folgt, so weiß es doch, dass irgendein Geräusch auf den Knopfdruck folgen wird.
In einer Version des Experimentes konnten die Probanden nach jedem Knopfdruck das gleiche Geräusch hören, der Ton war also konkret vorhersagbar, während in einer anderen Version das Geräusch nach jedem Knopfdruck wechselte, was die Vorhersagbarkeit erschwert. Ganz ähnlich zum Drehen eines Zündschlüssels in einem fremden Auto, wenn irgendein Motorengeräusch erwartet wird. In einer größeren Probandengruppe konnten die Forscher mit neuen Analysetechniken ein starkes Fehlersignal im auditiven Bereich als Reaktion bei tatsächlichem Ausbleiben des Geräuschs messen, wenn die Vorhersage des Geräuschs konkret war. Das EEG hat jedoch auch ein Fehlersignal im Hörbereich gezeigt, wenn die Vorhersage unkonkret gewesen ist; dieses Fehlersignal war jedoch kleiner. Das zeigt, dass das Gehirn auch Vorhersagen auf Grundlage unvollkommenen Wissens treffen kann. Außerdem, so vermuten die Autoren, sei das Fehlersignal kleiner, weil die Vorhersage im Hinblick auf das Geräusch weniger präzise war, und deshalb vom Gehirn bei der Interpretation der Sinneseindrücke geringer gewichtet wurde.
Solche unbewussten Vorhersageprozesse im Gehirn werden heute als einer der grundlegenden Mechanismen angesehen, wie das Gehirn arbeitet. Das LIN-Forscherteam konnte aufzeigen, dass dieser Mechanismus flexibler ist als ursprünglich gedacht, und dass er ein Puzzlestein dessen ist, wie wir die Welt um uns herum betrachten. Zukünftig wird die Forschergruppe von Nicole Wetzel "Neurokognitive Entwicklung" untersuchen, wie sich diese Mechanismen bei Kindern entwickeln.
Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg
Das LIN ist ein Grundlagenforschungsinstitut, das sich Lern- und Gedächtnisprozessen im Gehirn widmet. Das LIN wurde 1992 als Nachfolgeeinrichtung des Institutes für Neurobiologie und Hirnforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet und ist seit 2011 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Es bildet einen der Eckpfeiler des Neurowissenschaftsstandortes Magdeburg. Das LIN beherbergt moderne Labore für die neurowissenschaftliche Forschung – vom Hightech-Mikroskop bis zum Kernspintomographen.
Aktuell arbeiten rund 230 Personen am LIN, davon ungefähr 150 Wissenschaftler aus rund 28 Ländern. Sie erforschen kognitive Prozesse und deren krankhafte Störungen im Gehirn von Mensch und Tier.
Die Studie ist online zu finden unter: https://bit.ly/2y5NCK2