Teile der extrazellulären Matrix (grün), die die Nervenzellen (rot) umgibt, angefärbt und unter dem Mikroskop analysiert

Im histologischen Hirnschnitt wurden Teile der extrazellulären Matrix (grün), die die Nervenzellen (rot) umgibt, angefärbt und unter dem Mikroskop analysiert (Bildrechte: Eike Budinger und Julia Henschke/LIN Magdeburg).

Im Gehirn sind für die Verarbeitung von Sinneseindrücken nicht nur die Nervenzellen wichtig. Auch der Raum zwischen den Zellen spielt eine Rolle: In erwachsenen Hirnen modulieren extrazelluläre Matrixstrukturen den Informationsaustausch der Nervenzellen. Werden diese aufgebrochen, kommunizieren die Zellen stärker miteinander – auch über weite Entfernungen. Das haben Forscherinnen und Forscher am Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg in einer aktuellen Studie herausgefunden, die in der Zeitschrift Communications Biology erschienen ist.

„Wir vermuten, dass dieser Mechanismus das Lernen im Gehirn eines Erwachsenen ermöglicht,“ erklärt PD Dr. Max Happel, Leiter einer Arbeitsgruppe am LIN und Verantwortlicher dieser Studie. „Während unser Gehirn reift, bildet sich zwischen den Zellen eine stabilisierende Gelstruktur aus Proteinen und Zuckermolekülen: die extrazelluläre Matrix. Sie wirkt wie ein Korsett und verhindert, dass sich die Zellen im ausgereiften Gehirn wild neu vernetzen.“

 

Matrix kontrolliert abbauen Verbindungen ermöglichen

Mit Wüstenrennmäusen haben die Wissenschaftler untersucht, wie die Verarbeitung von Sinnesinformationen durch die extrazelluläre Matrix beeinflusst wird. Sie haben dazu den Tieren Töne vorgespielt und dabei die Aktivität vieler Tausender Nervenzellen in der Hörrinde gemessen. Informationen über unsere akustische Umwelt werden in diesem Teil des Großhirns geordnet verarbeitet. „Man kann sich das wie eine Klaviatur auf einem Piano vorstellen“, so Happel. „Nah benachbarte Nervenzellen werden aktiv, wenn zwei Tonhöhen sich ähneln, und weit entfernte Nervenzellen feuern, wenn die Töne sich deutlich unterscheiden.“

Die Matrix zwischen den Nervenzellen sorgt dafür, dass die Nervenzellen in der Hörrinde erwachsener Tiere stärker mit ihren nahen Nachbarn als mit weit entfernten Nervenzellen kommunizieren. „Das enge Korsett zwischen den Zellen erfüllt die wichtige Funktion, Verbindungen zu stabilisieren, die sich im Laufe unserer frühen Erfahrungen gebildet und als sinnvoll erwiesen haben. Dadurch limitieren sie auf der anderen Seite aber auch das Bilden neuer Verbindungen, sprich sie limitieren Lernprozesse im erwachsenen Gehirn“, erläutert Dr. Matthias Deliano, Co-Leiter der Studie am LIN.

Die Forscher haben mittels einer lokalen Injektion eines Enzyms die Matrix-Strukturen zwischen den Nervenzellen in der Hörrinde reduziert, ohne dabei die Zellen oder ihre Kontaktstellen zu schädigen. Sie haben festgestellt: Allein die Verringerung der stabilisierenden Matrix zwischen den Zellen sorgte dafür, dass die Kommunikation von vielen Nervenzellen auch über größere Distanzen im Gehirn gefördert wird. Das Forscherteam vermutet, dass sich somit bei Lernprozessen auch wieder mehr Nervenzellen aus weiter entfernt liegenden Bereichen neu verschalten können – ganz ähnlich, wie dies in jungen Gehirnen passiert.

 

Stabilität und Flexibilität: Balance liegt zwischen den Zellen

„Es ist faszinierend: Klebrige Gerüste, welche außerhalb der Nervenzellen liegen, beeinflussen, wie wir Informationen verarbeiten“, erläutert Mohamed El-Tabbal, Erstautor der Studie, der zurzeit am renommierten Okinawa Institute of Science and Technology in Japan forscht. „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass auch im Gehirn von Erwachsenen diese Matrix-Strukturen bei Lernprozessen zumindest teilweise abgebaut werden können. In unserer Studie konnten wir zeigen, welchen tatsächlichen Vorteil dies bei der Verarbeitung und Vernetzung von Sinnesinformation haben kann“.

In vorherigen Studien haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits nachweisen: Der für das Lernen wichtige Botenstoff Dopamin aktiviert körpereigene Enzyme, welche die extrazelluläre Matrix im Hirn teilweise abbauen. Nach dem Lernen werden diese wieder aufgebaut, um auch neu Gelerntes langfristig abzuspeichern und zu stabilisieren. Durch die richtige Balance der Molekülketten zwischen den Nervenzellen scheint das Gehirn beides zu wahren: Stabilität von bereits Gelerntem und Flexibilität für neu Gelerntes.

Ob sich mit dieser Methode neue Ansätze bei der Behandlung von Hirnerkrankungen ergeben, ist Bestandteil weiterer Forschungen. „Bei Angststörungen oder Suchterkrankungen entstehen in unserem Gehirn unerwünschte Verbindungen zwischen Nervenzellen. Durch eine zeitliche Befreiung der Nervenzellen aus ihrem Korsett ließen sich theoretisch ,Fenster plastischer Formbarkeit´ öffnen, die wir therapeutisch nutzen könnten“, resümiert Happel.

Die Studie ist online verfügbar unter: https://www.nature.com/articles/s42003-021-01837-4

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