Wie präzise man sich an etwas erinnert und warum es manchen von uns besser gelingt, ist zentrales Thema der Gedächtnisforschung. Der Schläfenlappen ist die zentrale Struktur des Gehirns, welche uns an Ereignisse des täglichen Lebens erinnern lässt. Neue Erkenntnisse aus der Forschung des Leibniz-Instituts für Neurobiologie (LIN) in Magdeburg zeigen nun, dass innerhalb des Schläfenlappens, unterschiedliche Netzwerke beim Abruf des Detailgehalts einer Erinnerung und beim Abruf der Essenz dieser Erinnerung involviert sind.

Erinnerungen sind für das tägliche Leben und um Alltagsentscheidungen zu treffen unerlässlich. Der Schläfenlappen, auch Temporallappen genannt, hat dabei eine ganz besondere Rolle. Kommt es zu Schädigungen dieser Hirnregionen, treten schwerwiegende Gedächtnisstörungen auf – häufig bei älteren Menschen und bei Patienten mit Gedächtnisverlust. Der Schläfenlappen setzt sich aus dem Hippocampus und seinen Unterregionen (z.B. CA1 und CA3) sowie kortikalen Bereichen zusammen, die den Hippocampus umgeben. In der neuesten Veröffentlichung von Prof. Dr. Magdalena Sauvage und ihrem Team liegt der Fokus auf Mikronetzwerken innerhalb des Schläfenlappens und deren Rolle im Erinnerungsprozess. Dafür wurde die Aktivität bestimmter Teile der Netzwerke temporär manipuliert und der Effekt auf die Gedächtnisperformance und auf die Aktivität des anderen Teils des Netzwerkes beobachtet. 
Die Manipulation der Mikronetzwerke erfolgt über das Verfahren der Optogenetik. Hierbei werden lichtsensitive Ionenkanäle, die zuvor in Algen entdeckt wurden, inaktiviert, wodurch für Millisekunden die Neuronenaktivität in bestimmten Hirnregionen gehemmt wird. Die Forschergruppe des LIN nutzt diese Möglichkeit, um per Lichtstimulation diese Ionenkanäle in bestimmten Arealen im Gehirn der Maus zu deaktivieren. Durch die Analyse des Verhaltens der Tiere konnte gezeigt werden, inwiefern aktuelle als auch weit zurückliegende Erinnerungen, die auf natürliche Weise ihren Detailgehalt verlieren, nach Manipulation ihren Detailgehalt beibehielten oder verloren. Darüber hinaus konnte durch hochauflösende molekulare Bildgebung, d.h. dem Sichtbarmachen von aktivierten Gehirnzellen, jene Netzwerke gezeigt werden, die vorzugsweise präzise oder vage Erinnerungen unterstützen. Der Prozess des Sichtbarmachens erfolgt über den Nachweis der RNA bestimmter Genen, die mit der Gedächtnisfunktion im Zusammenhang stehen.

Für die Studie wurde an Mäusen zunächst untersucht, welches Mikronetzwerk beim Abruf von aktuellen und von natürlich „verblassten“ Erinnerungen (≥ 1 Jahr) eher die Präzision als den Kern der Erinnerung abruft. Die ein Jahr alte Erinnerung der Mäuse entspricht dabei einem Zeitrahmen von 20 bis 40 Jahren beim Menschen. Mittels molekularer Bildgebung konnte gezeigt werden, dass für den Abruf aktueller Erinnerungen die hippocampalen Areale CA1 und CA3 involviert sind, während der umliegende Kortex fast unbeteiligt bleibt. Beim Abruf verblasster, weniger präziser Erinnerungen hingegen, ist nur noch das hippocampale CA1 mit Unterstützung vom Kortex involviert. Diese Erkenntnisse konnten ebenfalls mittels optogenetischer Deaktivierung von CA1 oder CA3 validiert werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Deaktivierung von CA3 zum Verlust der Präzision der Erinnerung führt, während die Deaktivierung von CA1 den Verlust des Kerns der Erinnerung zur Folge hat, unabhängig vom Alter der Erinnerung. 

Wie präzise man sich an etwas erinnert und warum es manchen von uns besser gelingt, ist somit möglicherweise auf die Unversehrtheit, der beim Abruf von Erinnerungen involvierten Mikronetzwerke zurückzuführen, und scheinbar nicht wie weitestgehend angenommen, auf das Alter der Erinnerung an sich. Diese Erkenntnisse bieten einen neuartigen Ansatz für die Behandlung von Patienten mit Amnesie, Alzheimer oder anderen Arten von Gedächtnisdefiziten. 

Die vollständigen Ergebnisse dieser Studie wurden in der Fachzeitschrift „Cell Reports“ veröffentlicht

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